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Kübra Gümüşay

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Thomas Rohde
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MANCHE GEFÜHLE LEBEN NUR IN BESTIMMTEN SPRACHEN

Plötzlich weinte ich.

Es war der Festtagsmorgen, an Bayram. Wir saßen in Oxford am Frühstückstisch, als im Radio eine Sendung über das Bayramfest in Deutschland lief. Der Moderator erzählte von Vätern, die sich auf den Weg in die Moschee machen, von der Aufregung, die zuhause herrscht, die letzten Vorbereitungen für das große Frühstück und die Kinder, die erwartungsvoll um die Geschenktüten herum tanzen. Die vertrauten Geräusche aus dem Radio erfüllten unsere Küche – und ich sah zum ersten Mal die Leere. Die fehlenden Menschen. Meine liebevollen Eltern und Geschwister, meine sentimentalen Großeltern, Tanten und Onkels, Cousinen und Cousins. Die Älteren der Gemeinde, die mich jedes Mal fest an sich drücken und davon erzählen wie ich so war als Kind und wie die Zeit doch vergehe.

Doch eigentlich waren nicht sie abwesend, sondern ich. Ich bin fort, ich lebe im gurbet. Was das ist?

Als ich mich an meinen Schreibtisch setzte und versuchte meine Gefühle in Worte zu fassen, tanzten meine Finger auf der Tastatur. Ich schrieb fließend, ganz natürlich. Erst viel später bemerkte ich, dass ich auf Türkisch geschrieben hatte.

„Es ist merkwürdig“, schrieb eine Freundin, „das Wort ‚gurbet’ lässt sich nicht so einfach in andere Sprachen übersetzen.“ Würde ich gurbet als „das Leben in der Fremde“ übersetzen, würde es niemals ausreichen, um meinem Gegenüber das Gefühl zu beschreiben, dass dieses Wort erzeugt.

Gurbet. Ganz alleine, ohne jeglichen Zusatz kann dieses Wort den Menschen, der gurbet kennt, Erinnerungen hervorrufen lassen, Sehnsucht und Schmerz fühlen lassen, die Wangen nässen. Die türkische Autorin Elif Safak beschreibt es als einen unsichtbaren Splitter unter der Haut, an der Spitze des Fingers. „Willst du ihn entfernen, vergeblich. Versuchst du ihn zu zeigen, ebenso vergeblich. Er wird zu deinem Fleisch, deinen Knochen, ein Teil deines Körpers. Ein Gliedmaß, das sich nicht mehr entfernen lässt, sei es dir noch so fremd, so anders“, schreibt sie.

Gurbet ist eines der vielen Worte, für die ich im Deutschen keine einfache Übersetzung finde. Genauso, wie ich Gedanken im Deutschen in keinen einfachen türkischen Satz fassen kann. Ich will auch mal „doch“ im Türkischen sagen. Ich will die „Herausforderung“ erklären, das „Dasein“ und die „Schadenfreude“. Für jedes einzelne Wort braucht es mehrere Sätze. Nur dann versteht mein Gegenüber, das, was ich dabei fühle.
So leben manche Gefühle nur in bestimmten Sprachen. Sprache öffnet uns die Welt und grenzt uns ein – im gleichen Moment.

„Bir lisan, bir insan. Iki lisan, iki Insan“, lautet ein türkisches Sprichwort: Eine Sprache ist ein Mensch, zwei Sprachen sind zwei Menschen. Folglich sind drei Sprachen, drei Menschen.

Im Deutschen spreche ich viel und schnell. In die Zeit, die man mir gibt, versuche ich so viel unterzubringen, wie nur möglich – denn ich will erzählen, erklären. Deutsch sprudelt aus mir heraus. Ich liebe diese Sprache, mit dessen Worten ich gerne spiele und vor der ich großen Respekt habe.

Im Englischen bin ich ruhiger. Ich rede nicht so eloquent wie im Deutschen, aber da ist es mir auch nicht so wichtig. Ich vertraue auf das, was ich sage, und auf mein Gegenüber, das mit mir denkt. Dort überlasse ich den Gedanken Raum. Und wenn mir mal ein Wort nicht einfällt, erfinde ich einfach eines. Meistens funktioniert’s.

Im Türkischen schreibe ich Gedichte. Im Türkischen bete ich. Im Türkischen weine ich. Es ist die Sprache, die ich als Erstes lernte. Die Sprache, in der ich von meiner Familie geliebt wurde, die Sprache, in der ich das erste Mal weinte, die Sprache, in der ich das erste Mal liebte.

Und so, egal in welcher Sprache ich spreche, es fehlt die andere. Und das ist eine schöne Herausforderung.

Nachtrag

Den türkischen Text “Özlem“, den ich in der Kolumne erwähne, findet ihr hier. Ich möchte mich für die vielen wunderbaren Reaktionen auf den Text bedanken. Diejenigen wissen sicher, dass sie gemeint sind. Danke! Eine möchte ich jedoch namentlich nennen, meine geliebte Canan Abla. Senin sohbetine doyum olmuyor.

journalist, columnist and author of this blog. a turkish-german muslim juggling politics, feminism, cyberculture and life between germany, istanbul, oxford & the world.

Comments

  • November 6, 2012
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    beautiful. wahre Worte, ich kann meine Gefühle auch nie im Englischen richtig ausdrücken.

    • November 6, 2012
      reply

      Danke, liebste Maria. Ja, ich habe erst gestern mit jemandem hier in Oxford darüber gesprochen. Häufig merkt dein Gegenüber gar nicht, wie unbefriedigt du beim Vermitteln deiner Gefühle bist. Nur du selbst merkst die großen Gefühle, denen kein Wort gerecht zu werden scheint. Wie viele Menschen es wohl um uns herum gibt, die so fühlen? Ich finde das spannend…

  • November 7, 2012
    reply

    Oh ja liebe Kübra, da hast du mir wirklich aus dem Herzen gesprochen. Ich lebe auch (im? – ich weiß nicht wie man das Wort anwendet ;) ) “gurbet” und auch hier findet sich ein ganz besonderes Wort, das man nicht ins Deutsche übersetzen kann und das nicht nur die Seele der Portugiesen sondern auch die meine oft beherrscht. Saudade: Sehnsucht, Heimweh, Fernweh, Nostalgie, Wunsch nach etwas anderem, nach dem Alten, nach Neuem (bei mir persönlich ist die Sehnsucht nach muslimischem Umfeld dazu gekommen) und das alles verbunden mit typisch portugiesischer Melancholie… dein Bild mit dem Splitter passt. Vielleicht sind sich Türken und Portugiesen näher als sie denken. Wenn du magst, schaust du mal hier rein: http://www.youtube.com/watch?v=uPq3oW8_vCI – die grande Dame des Fado, Amalia Rodrigues, besingt hier die Saudade.

    In meiner Familie passiert es oft, dass so ein unübersetzbares Schlüsselwort den Wechsel in die andere Sprache auslöst.

    Und wie ich schon auf Twitter kommentiert habe: je mehr Sprachen man lernt, desto mehr Gefühle lernt man kennen….

  • November 7, 2012
    reply

    Oh, ganz groß. Ich verstehe Dich. Aber es ist auch oft so, dass man seinen Mitmenschen, die dieselbe Sprache sprechen nicht erklären kann was man fühlt, weil sie einfach anders ticken.
    Außer meine Frau kenn ich niemanden der manchmal bei Musik die einfach so jemand aufführt, man weinen könnte vor …Rührung? Freude? Melancholie?
    Siehst Du. Es geht schon los.
    Ich verstehe aber. Danke für diesen Artikel.
    Chadidscha erwähnt den Fado und spricht mir aus der Seele. Ja, in Portugal ist das Gefühl groß. Es ist schwermütig und immer auch fern. Ähnliches erlebte ich in der Bretagne. Ich glaube es liegt am Meer und den Schiffen.

  • November 8, 2012
    reply

    En un verde prado
    tendi mi pañuelo
    y salieron tres rosas
    como tres luceros…

    Auf einer grünen Wiese
    breitete ich mein Tuch aus
    und es erblühten drei Rosen
    wie drei Sterne…

    Wofür die drei Rosen stehen, können spanische Roma verstehen (Türken vielleicht auch?). Ich kenne das Lied von der Hochzeit meines Roma-Cousins und 17 Jahre später bekomme ich noch Gänsehaut davon.

    Pauline

  • November 9, 2012
    reply

    Sehr wahr. Es geht über dem Problem der “Sprachkrise” hinaus, es wird auch ein Problem , das generell unter den Sprachen herrscht. Das Wort “Gurbet” gibt es ja so im Deutschen nicht, weil es kein “Gefühl des Gurbets” gibt in Deutschland.
    Dsewegen perfekt getroffen- MANCHE GEFÜHLE GIBT ES NUR IN BESTIMMTEN SPRACHEN. Sie leben in uns, doch wir sind nur ihre Gastgeber. Ihre eigentliche Heimat ist die HEIMAT, die uns diese Gefühle schenken.

  • November 11, 2012
    reply

    Anonymous

    Liber Kübra, ich glaube du hast mit diesem Thema direkt ins Schwarze getroffen. Die Gefühle kann man nicht so einfach ausraddieren. Das Gefühl Gurbet ist einer von vielen gründen, warum wir nicht assimiliert werden können. Es ist unsere gemeinsames Gefühl wie alle im Ausland lebenden Türken. Dein Beitrag war für mich ein Trost, denn irrtümliche weise dachte ich, wenn ich die “einheimische” Sprache so gut kann wie du und den “Einheimischen” durch den kopf schauen könnte, würde ich weniger von diesem Gefühl haben. Ich habe aber jetzt begriffen: Ağzımla kuş tutsam olmayacak/Ich könnte einen Vogel mit dem Mund fangen, es würde trotzdem nicht klappen. Gülümsediğini görür gibiyim. Allah gülümsemeni eksik etmesin.

    “Cenâb-ı Hak nezdinde kulların en sevimlisi gariplerdir.” (HZ. Muhammed)

  • November 14, 2012
    reply

    Anonymous

    “In der Fremde ist man nicht, wenn man fernab der Heimat ist, sondern wenn man entzogen ist von Freunden, die dich verstehen.”

    Mustafa Islamoglu

  • November 22, 2012
    reply

    حنين،حنين،حنين
    أنا ذائبة فيك حنين
    الغربة تووهتني
    لكن ما غربتني
    عنك حنين، حنين

  • November 30, 2012
    reply

    sehr sehr gut getroffen hast du da ins bunte loch der unübersetzbarkeit…..danke dir sehr! mir fiel vor einem halben jahr folgendes dazu ein:

    Baba
    bir masal anlat bana
    singt ein lied nach einem
    langen tag in meine erschöpften ohren
    während mir aus einer winzigen tasse
    starker zuckriger türkischer kaffee
    die schwere des abendessens nimmt

    ich ver-versinke mich in die kissen des sofas
    ver-versinke in kaffee und musik baba
    bir masal anlat bana
    icinde tüm oyunlarım
    kurtlar kuzu olsun
    şeker ve bal
    baba

    ich stocke
    erschrecke

    baba bist du nicht
    papa heißt es
    oder besser vater
    und
    du verstehst nicht
    worum es in dem lied geht
    und du verstehst nicht
    worum es bei mir geht

    ich mache
    rilkes entstehende fernen
    wörtlich lebendig

    mein fernenreiches leben fordert
    ständige übersetzung, vater
    immer wieder schwierige
    erklärungen meiner handlungen
    worte in einer sprache
    die es in der anderen
    nicht gibt

    erklärungen in denen ich mich zu oft
    in rechtfertigungen des fremden verstricke
    vergessend
    dass ich nur dadurch
    die verfremdung erst bedinge

    aber wer ist wo hier wem fremd

    worte in einer sprache
    die es in der anderen
    nicht gibt

    wer ist wo hier wem fremd

    mein fernenreiches leben fordert
    ständige übersetzung vater

    die doch immer nur annäherung bleibt

    worte in einer sprache die es in der anderen
    nicht gibt wer wo wem fremd
    wer wo wem fremd

    über-setzen zu ufern welche schon längst
    von den wassern der zeit
    verspültvergangen sind.

    baba bir masal anlat bana
    spreche ich dir in rätseln
    setze ich über
    stolpere vielmehr:

    papa
    erzähl mir
    ein märchen

  • December 13, 2012
    reply

    Souljah

    Und in welcher sprache träumst du?

  • December 6, 2014
    reply

    “Häufig merkt dein Gegenüber gar nicht, wie unbefriedigt du beim Vermitteln deiner Gefühle bist. Nur du selbst merkst die großen Gefühle, denen kein Wort gerecht zu werden scheint.”

    I fell u! Manchmal macht es mich richtig wütend, dass ich egal wie gut ich die deutsche Sprache beherrsche, das Gefühl habe das bestimmte Emotionen und bestimmte ausschlaggebende Worte einfach nicht ankommen. Ich denke das hat sehr viel sowohl mit der Sprache, als auch mit der Connection zu tun, die wir zu diesen Emotionen haben. Es ist einfach unfassbar schwieirg, Menschen die nicht bilingual erzogen wurden das klar zumachen. Also ich glaube nicht, dass sie das im wirklichen Sinne nachempfinden können. Du lernst ja nicht einfach eine Fremdsprache, sondern der ganze Prozess in dem sich deine Synapsen bilden, deine Erfahrungen und Emotionen kristallisieren, ist mit diesen Sprachen verbunden.

  • December 6, 2014
    reply

    SI

    Ein sehr schöner Text über etwas völlig Natürliches! Wörter und die Konzepte, die sie ausdrücken, sind eng miteinander verknüpft, und dass in unterschiedlichen Teilen der Welt mit unterschiedlichen Kulturen und Bedingungen unterschiedliche Begriffe entstehen, ist doch eigentlich logisch. So haben die Inuit unglaublich viele Wörter für Schnee, was für uns hier kaum notwendig ist. Ich finde es völlig natürlich und auch unglaublich schön, wenn man für bestimmte Konzepte, die man ausdrücken möchte, auf passende Begriffe aus mehreren Sprachen zurückgreifen kann. Das ist doch eine unglaubliche Ressource, die ich niemandem verbieten wollen würde. Wirklich sehr lebendig beschrieben in diesem Text! Danke dafür.

  • December 8, 2014
    reply

    Tri Momo

    Soviel ich weiß, dass das Wort Gurbet kommt aus der Arabische und heißt Al gurbatu oder einfach Al gurba. Dh. Die Fremde, Nostalgie.

  • December 8, 2014
    reply

    Kornblume

    Kübra Gümüsay, du spielst mit den Worten, wie andere Klavier.

    Viele meiner Freunde sprechen nicht meine Muttersprache, wir haben diese Momente immer mal wieder -da kann man ein Wort einfach nicht übersetzen, weil es schon fast ein Symbol für etwas ganz, ganz bestimmtes ist.

    Ich hoffe mehr Menschen nehmen sich die Zeit, zu hören was du zu sagen hast, oder zu lesen, was du schreibst.
    Und ich hoffe, sie wollen es verstehen.
    Du bist ein sehr inspirierender Mensch.

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